Fehlende Netzneutralität für Telekom-Kunden spürbar

Bei vielen Diskussionen pro und contra Netzneutralität wird von der Contra-Seite darauf hingewiesen, dass wir bisher auch keine vorgeschriebene Netzneutralität hatten und deren fehlen bisher niemandem unangenehm aufgefallen sei.

Das ist falsch, die fehlende Netzneutralität ist für viele Internetnutzer durchaus spürbar. Vom Provider Init7 gibt es dazu eine sehr technische Erläuterung, die ich im Folgenden in eine für Normalanwender leichter verdauliche Form bringen möchte. Vorab bedarf es etwas Grundwissen, um die Daten- und Geldströme im Internet verstehen zu können.

Welche Arten von Datenzusammenschaltungen gibt es?

  • Transit: Provider A kauft bei Provider B Zugang zum gesamten Internet ein, es ist Aufgabe von Provider B, das gesamte Internet erreichbar zu machen.
  • Peering: Provider A und Provider B tauschen Daten zwischen ihren Netzen (und den eigenen Kunden) direkt und kostenneutral aus. I.d.R. an Bedingungen geknüpft, damit beide Seiten dadurch profitieren.

Sonder-/Mischformen:

  • Partial Transit: Provider A kauft bei Provider B Zugang zu Teilen des Internets ein, die B besonders einfach erreichen kann. I.d.R. günstiger als normaler Transit.
  • Paid Peering: Provider A kauft bei Provider B direkten Zugang zu dessen Netz (und dessen Kunden), also quasi sehr partieller Transit. I.d.R. angeboten, wenn Bedingungen für normales Peering nicht erfüllt sind.

Anhand der Datenzusammenschaltungen kann man Provider nun in ein dreistufiges System einordnen:

  • Tier 1 Provider: Kaufen keinen Transit ein, decken das gesamte Internet durch Peerings mit anderen Tier 1 Providern ab.
  • Tier 2 Provider: Kaufen Transit ein, nutzen aber auch Peerings zur Kostenreduzierung und/oder Performanceverbesserung.
  • Tier 3 Provider: Kaufen nur Transit ein.

Kommen wir nun zurück zum eigentlichen Thema, wo/wie spüren Telekom-Kunden die fehlende Netzneutralität?

Die Telekom ist seit Dezember 2010 ein Tier 1 Provider, d.h. Sie kauft keinen Transit mehr ein sondern wickelt ihren ganzen Datenverkehr über kostenneutrale Peerings mit anderen Tier 1 Providern ab (nebenbei: Die 2013 angedachte DSL-Drossel wurde u.a. mit dem teuren Einkauf von Traffic begründet.) oder wird sogar von Contentprovidern dafür bezahlt.

Viele dieser Peerings zwischen der Telekom und anderen Tier 1 Providern (z.B. Cogent, Level 3, NTT, GTT, TeliaSonera, XO, …) sind jedoch zur „Primetime“ massiv überlastet, wodurch die Datenübertragungsraten einbrechen (Paketverluste) und die Reaktionszeiten in die Höhe gehen (Latenzen). Laut Aussage von Level 3 wird ein Ausbau der Zusammenschaltungen von der Telekom verweigert.

Warum? Als großer Zugangsprovider kann man seine eigenen Endkunden und die seiner IP-Reseller (im Fall der Telekom sind das Congstar und teilweise 1&1) als Druckmittel benutzen und die Contentprovider in gewisser Weise erpressen: „Möchtest Du meine Endkunden schnell erreichen können? Dann kaufe bitte Transit oder Paid Peering direkt bei mir ein, die normalen Wege sind leider überlastet.“

Auf den ersten Blick nicht weiter schlimm, ist doch egal, wo man (noch) Transit einkauft, schaut man sich jedoch die Preise an, die die Telekom laut Init7 verlangt, wird das Problem klar:

  • Doppelter Marktpreis
  • Progressives Preissystem

Vor diesem Hintergrund drängt sich dem Telekom-Kunden nun doch der Verdacht auf, dass die überlasteten Peerings der Telekom (die normalen Spuren) volle Absicht sind, um den Contentprovidern die teuren „Überholspuren“ schmackhaft zu machen.

Wer leidet darunter? Die Telekom-Kunden, die nur die Angebote wirklich schnell erreichen können, die sich eine „Überholspur“ ins Telekom-Netz kaufen. Init 7 hat dazu eine Vergleichsmöglichkeit (leider nicht mehr auf der Originalseite aufrufbar, daher nicht mehr als Vergleichsmöglichkeit nutzbar) online gestellt, wo man sich jeweils Audio- und Video-Stream auf dem normalen Weg und über die teure „Überholspur“ ansehen kann. Der Unterschied ist auch außerhalb der „Primetime“ bereits deutlich.

Vor diesem Hintergrund wirken auch die Versuche der Telekom, ein nationales Routing bzw. ein Schengen-Routing durchzusetzen, ganz anders: Der Versuch, die Provider per Gesetz zum Transit-Einkauf zu zwingen.

Update 11:30:

Ja, in diesem Beitrag geht es nicht um klassische, aktive Netzneutralitätsverletzungen bei der ein Anbieter aktiv den Datenstrom negativ beeinflusst, sondern um passive Netzneutralitätsverletzungen, bei der ein Anbieter durch seine Peering- und Preispolitik indirekt aber bewusst den Datenstrom negativ beeinflusst. Das Ergebnis ist im wesentlichen dasselbe.

Update 31.07.2019:

Das Thema ist weiterhin aktuell, einige der Quellen sind aber in Folge von Redesigns etc. nicht mehr unter ihren originalen URLs erreichbar. Ich habe stattdessen die entsprechenden Stände in der Wayback Machine verlinkt.